Geschäftsführer Harald Müller: „Wenn dem Mittelstand das Personal ausgeht, steht der industrielle Kern Deutschlands im Feuer.“
Bonn, 24. Januar 2023 – „Mehr Engagement bei Aus- und Weiterbildung ist der einzige Weg für die deutsche Wirtschaft, dem zunehmenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken“, fordert Harald Müller, Geschäftsführer der Bonner Wirtschafts-Akademie (BWA). Vor allem dem Mittelstand sagt der Akademie-Chef angesichts der Personalknappheit schwere Zeiten voraus. „Großunternehmen locken mit höheren Vergütungen oder verlagern Tätigkeiten, für die hierzulande das Personal fehlt, ins Ausland. Doch der mittelständischen Wirtschaft sind diese beiden Wege in der Regel versperrt.“ Er warnt: „Wenn dem Mittelstand das Personal auf Dauer ausgeht, steht der industrielle Kern Deutschlands im Feuer.“
Bürgergeld wird die Lage nicht verbessern
„Das Bürgergeld wird die Lage nicht verbessern“, wird der Chef der Wirtschafts-Akademie politisch. Er erklärt: „Soziale Sicherungssysteme wie das Bürgergeld helfen den Betroffenen zwar, aber sie motivieren nicht dazu, sich durch Qualifikation für den Arbeitsmarkt vorzubereiten.“ Harald Müller gibt ein Rechenbeispiel: „Wer sich zu einer Ausbildung entschließt, erhält zwischen 800 und 1.200 Euro brutto monatlich. Sowohl das Bürgergeld als auch der Verdienst bei einer Transfergesellschaft, die mit einem Zeitarbeitsmodell arbeitet, liegen deutlich höher. Warum sollte sich also jemand den Mühen einer Ausbildung unterziehen, wenn man damit weniger verdient?“
Der BWA-Chef zeigt einen Ausweg auf: „Menschen, die sich zu einer Ausbildung entschließen, müssen eine Aufstockung zu Bürgergeld und Zeitarbeitslohn erhalten.“ Die Aufstockung könnte entweder vom Staat oder von der Wirtschaft getragen werden. Müller: „Wenn der Staat versagt, sind die Unternehmen gefragt, jungen Menschen mit finanziellen Anreizen eine Ausbildung schmackhaft zu machen.“ Die Arbeitgeberseite könnte die Aufstockungskosten zumindest teilweise übernehmen oder innovative Darlehensmodelle für die Nachwuchsförderung auflegen, regt er an.
Politik ignoriert die Ausbildungsmisere seit zehn Jahren
Harald Müller beklagt: „Die Ausbildungsmisere und der daraus resultierende Fachkräftemangel sind seit mehr als zehn Jahren absehbar. Aber in der Politik ist dieses Problem immer noch nicht angekommen. Alle bisherigen Bundesarbeitsminister haben dieses Thema schlichtweg verschlafen.“ So fordert der Akademie-Chef bei der Agentur für Arbeit „eine strikte Trennung zwischen Arbeitsvermittlung und Ausbildung“. Er sagt: „Die Vermittler sind Bürokraten, die überhaupt nicht gelernt haben, Menschen für eine Ausbildung zu motivieren und beim Lernen zu begleiten. Die Bürokratie steckt die Betroffenen von einer Maßnahme in die nächste, aber hilft ihnen nicht, ans Ziel zu kommen.“
Harald Müller weiß aus Projekten: „Es gilt die Menschen zu motivieren, eine Ausbildung zu beginnen und sie dann bis zum erfolgreichen Abschluss zu begleiten. Dazu wird ein langfristiger Ansprechpartner benötigt, der häufig Schulden-, Arbeits- und Ausbildungsberatung in sich vereint.“ Der BWA-Chef gibt Einblick in die Praxis: „Wir reden beispielsweise von Menschen zwischen 24 und 27 Jahren, die von Haus aus Lernen nicht gewöhnt sind, und daher Anleitung und Unterstützung statt Bürokratie benötigen, um einen qualifizierten Abschluss zu erreichen.“ Er hat festgestellt: „Viele sind technisch interessiert und haben die Befähigung etwa zum Maschinenanlagenführer oder einem vergleichbaren Beruf, erreichen dieses Ziel aber nur, wenn man sie auf dem Weg dahin intensiv begleitet.“
Anerkennung ausländischer Abschlüsse vereinfachen
Darüber hinaus rät Harald Müller der Politik, „dringend die Anerkennung ausländischer Abschlüsse zu vereinfachen“. Er stuft es als „absurd“ ein, dass „selbst Abschlüsse aus anderen EU-Ländern in Deutschland nur schwerlich anerkannt werden“, und gibt ein Beispiel: „Einen Gesellenbrief aus Belgien hierzulande anerkannt zu bekommen, kostet nicht nur 400 Euro, sondern bedarf auch der Überwindung etlicher bürokratischer Hürden.“ Harald Müller politisiert: „Angesichts der anhaltenden Migration sollten qualifizierte Einwanderer schleunigst identifiziert und ihre nachgewiesenen Abschlüsse für den hiesigen Arbeitsmarkt zur Anerkennung gebracht werden.“
Unternehmen müssen ihr eigenes Personal besser qualifizieren
Wesentliche Schlüssel zur Bekämpfung des Fachkräftemangels halte allerdings nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft in der Hand, ist der Chef der Bonner Wirtschafts-Akademie fest überzeugt. Aus zahlreichen Beratungsprojekten weiß er: „Viele Unternehmen haben gar keinen Überblick über die enormen Potenziale der Beschäftigten im eigenen Betrieb. Durch eine gezielte Personalanalyse mit dem Ziel, Kandidaten für Weiterbildungsmaßnahmen zu identifizieren, lassen sich in der Regel etliche Beschäftigte eine oder gar zwei Stufen höher in der Wertschöpfungskette heben.“ Die Gründe für die häufig brachliegenden Personalressourcen liegen bei der Organisation im Personalwesen, hat Harald Müller in vielen Firmen festgestellt: „Im Zuge von Sparmaßnahmen werden oftmals Personalchefs durch sogenannte HR Business Partner ersetzt, die in erster Linie als Personalverwalter fungieren. Wenn auf tausend Beschäftigte ein HR-Verwalter kommt, kann man nicht erwarten, dass dieser einen Überblick über die Qualifizierungspotenziale im Personalbereich behält.“ Als einen weiteren „weißen Fleck“ stuft BWA-Geschäftsführer Harald Müller die Qualifizierung von Fachkräften ein, die im Rahmen ihrer Karriere ins Management aufsteigen. „Gute Fachleute sind nicht per se gute Führungskräfte“, warnt er und rät: „Wer von einer Fach- auf eine Managementposition wechselt, sollte in Seminaren auch die dazu notwendige Befähigung vermittelt bekommen. Firmenleitungen, die an dieser Stelle sparen, dürfen sich nicht wundern, wenn Sand ins Führungsgetriebe gerät.“ Als typische Problemstellungen beim Wechsel von der Fach- auf die Managementebene nennt Müller die dafür notwendigen Softskills, das Berichtswesen in internationalen Gremien, das Arbeiten über mehrere Zeitzonen hinweg und „den vor allem durch die neuen Medien hervorgerufenen Zwang, ständig auf alles möglichst sofort zu reagieren.“