Herr Müller, mit Ihrer Bonner Wirtschafts Akademie haben Sie sich auf das Thema Beschäftigtentransfer spezialisiert. Was ist hier Ihre Aufgabe?
Uns geht es darum, Mitarbeiter, die von Insolvenzen oder Personalabbau betroffen sind, möglichst schnell wieder in Arbeit zu vermitteln. Steht das Unternehmen vor einem solchen Schritt, verhandeln Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung zunächst darüber, welche Möglichkeiten für Beschäftigte bestehen – etwa der Übergang in eine Transfergesellschaft wie wir. Beschäftigte können sich freiwillig dafür entscheiden. Sie gehen dann ein auf maximal zwölf Monate befristetes Beschäftigungsverhältnis mit der BWA ein. Ende 2021 hatten wir in der Spitze 1300 solcher Beschäftigten bei uns, meist aus der Industrie und dem Mittelstand. Wir beraten sie bei der Erstellung von Bewerbungen, organisieren Jobmessen und veranstalten Kennenlern-Tage mit Unternehmen. Wir haben ein großes Netz an Industrieunternehmen, in die wir Arbeitnehmer vermitteln. Wenn wir wissen, dass etwa ein Metallunternehmen einen Maschinenanlagenführer benötigt, suchen wir in unserem Pool nach einem geeigneten Kandidaten.
Und wenn es keinen gibt?
Dann besteht mitunter die Möglichkeit, Arbeitnehmer aus einem ähnlichen Bereich mit gezielten Qualifizierungen an das Suchprofil des Unternehmens heranzuführen.
Kritische Stimmen sagen, dass Unternehmen ihre Beschäftigten über Transfergesellschaften einfacher loswerden können und der Vermittlungserfolg in einen neuen Job gering ist. Was antworten Sie hierauf?
Bei uns bleiben Beschäftigte im Schnitt nur sechs der zwölf Monate, bis sie etwas Neues finden. Als Juristen, Psychologen und Wirtschaftsinformatiker kommen unsere Berater aus den unterschiedlichsten Bereichen, sodass wir umfassend beraten können. Gleichzeitig haben wir nach 25 Jahren viele Kontakte in große und mittlere Unternehmen geknüpft, was die Vermittlung erleichtert.
Wie finanziert sich das Transfer-Modell?
Co-Financier unserer Leistungen ist die Agentur für Arbeit, die uns Transferkurzarbeitergeld stellt, außerdem gibt es meist einen Aufstockungsbetrag durch das Unternehmen, das eine Umstrukturierung plant.
Arbeitgeber auf der einen Seite, Arbeitnehmervertretungen auf der anderen, und mittendrin die BWA: Ist das ein schwieriger Spagat?
Wir verstehen uns als Moderater zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmervertretern und Gewerkschaften. So unterstützen wir etwa bei der Abwägung, dass bei einer Umstrukturierung zusätzlich zu Abfindungen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Vordergrund steht. Hier setzen die Instrumente des Beschäftigtentransfers an. Zudem beraten wir bei der Frage, wie das Qualifizierungsbudget eingesetzt werden kann. Dieses Budget erhalten Mitarbeiter in Transfergesellschaften, um sich weiterzubilden oder umzuorientieren.
Was ist in Ihren Augen derzeit das größte Problem des Arbeitsmarkts?
Dass so viele Potenziale nicht gehoben werden. Nehmen wir Menschen, die nach ihrer Entlassung wieder auf Jobsuche sind: Um sich umzuorientieren, könnten sie eine Ausbildung machen. Doch die Ausbildungsvergütung ist vielen nicht ausreichend. Darüber hinaus brauchen wir mehr berufsabschlussrelevante Maßnahmen. Heißt: Wir müssen mehr Menschen dazu bringen, einen Abschluss zu machen. Denn dann werden ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt viel größer.
Aufgrund von Fachkräftemangel befinden wir uns heute in einem Arbeitnehmermarkt. Was ist aus Ihrer Sicht wichtig, um Mitarbeiter für sich zu gewinnen?
Natürlich ist die Bezahlung wichtig. Als vorbildhaft erachte ich das jüngste Tarifpaket der Chemiebranche. Beschäftigte erhalten etwa Sonderzahlungen in Höhe von 3000 Euro pro Kopf, die in zwei Tranchen ausgezahlt werden – 2022 und 2023. Das trägt den Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern Rechnung. Doch Bezahlung allein reicht nicht; der monetäre Effekt verpufft in der Regel bereits nach dem zweiten Monat im Unternehmen. Heute zählen verstärkt die weichen Faktoren: Wie gehe ich als Arbeitgeber mit meinen Mitarbeitern um? Wie beteilige ich sie am Erfolg des Unternehmens? Welche Flexibilität ermögliche ich ihnen? Ein Mittelständler etwa, der eine Vier-Tage-Woche anbietet, wirkt auf viele Bewerber verlockend.
Die Arbeitsmarktzahlen für September haben sich saisonbedingt leicht erholt, allerdings blicken viele Unternehmen unsicher in die Zukunft. Welche Entwicklung erwarten Sie?
Dieses Jahr ist die Ruhe vor dem Sturm. Die Situation ist mit der Finanzkrise von 2008 vergleichbar. Ich bin sicher, dass es zu Personalabbau kommen wird, vor allem in den energieintensiven Branchen. Dazu kommen die Inflation und die schwindende Kaufkraft.
Was raten Sie jemandem, der nach seiner Entlassung auf Jobsuche ist und kein klar definiertes Berufsbild vorweisen kann – etwa weil er jahrelang als Allrounder gearbeitet hat?
Er sollte in Bewerbungsgesprächen möglichst konkret benennen, an welchen Projekten er mitgearbeitet hat und Beispiele aufzählen, was er dort gemacht hat. Auch kann er Systeme erwähnen, die er für seine Arbeit brauchte. Wichtig ist, dass er flexibel auf die Anforderungen des Arbeitgebers reagiert. Wenn dieser sagt, dass man für den Job ein bestimmtes IT-System kennen muss, sollte die Antwort des Bewerbers nicht sein: Damit habe ich noch nie gearbeitet. Sondern: Ich habe bisher mit System XY gearbeitet und kann mir vorstellen, mit ein wenig Eingewöhnung auch das neue zu beherrschen.
Aber angenommen, der Bewerber ist älter als 50 Jahre. Wie realistisch sind seine Chancen auf den Job?
Das Alter spielt auf dem Arbeitsmarkt heute eine sekundäre Rolle. Viel wichtiger ist die Darstellung der Qualifikationen. Die Menschen sind es nicht gewohnt, mit ihren eigenen Kompetenzen zu werben – vor allem nicht, wenn sie jahrelang in einem Unternehmen tätig waren und sich lange nicht bewerben mussten. Ich sage immer: Bewerben ist Werben. Das versuchen wir, Jobsuchenden klarzumachen.
Sie haben die BWA vor 25 Jahren gegründet. Was haben Sie noch mit ihr vor?
Künftig wollen wir noch stärker in den Bereich der Führungskräfteberatung. Inzwischen ist das soziale Verhalten von Vorgesetzten viel wichtiger geworden. Daher machen wir immer erst eine Ist-Aufnahme mit der Führungskraft, in der ihr Sozialverhalten abgefragt wird. Auch ihre kommunikativen Kompetenzen spielen eine größere Rolle. In der Buchhaltung etwa, in der es früher nur um Zahlenarbeit ging, müssen Führungskräfte nun Ergebnisse vor Gremien zusammenfassen und entsprechend anschaulich präsentieren. Auch hier beraten wir.